2018 - Ultra Trail du Mont Blanc 2009
Geschrieben September 2009
Im Spätsommer 2003, als ich meinen aller ersten Ultra gelaufen bin, hat mir Bernhard von einem ganz
besonderen Abenteuer erzählt. Die Worte "Chamonix" und "Nacht" und "Mont Blanc"
fielen wie Samenkörnchen auf den Fruchtbaren Boden meiner Phantasie. Lange habe ich dann trainiert, bin gelaufen
und meistens angekommen. Im Jahr darauf dann der erste Lauf auf Naturweg, der Eifelmarathon. Dann der erste Ultra im
Wald (Röntgenlauf) und so weiter. 2006, bei der Brocken-Challenge hat dann Anke Drescher wieder von diesem Lauf
um den Mont Blanc, dem UTMB, berichtet und ich war wieder faszinniert. So langsam wurde es möglich. 2007 hat
mein Freund Markus Weißberg den UTMB gefinisht, aber ich war noch nicht so weit. Statt dessen hatte ich das
große Glück, einen Platz beim Stunt100 zu bekommen. Eines Tages, es war wohl schon Februar, sah ich beim
Blick auf auf die Website des Stunt100, daß der Stunt als vollwertige Qualifikation für den UTMB akzeptiert
wird. Für den UTMB kann man sich nämlich nicht einfach anmelden, man muß u.A. eine genau vorgeschriebene
Qualifikation erwerben, damit nur diejenigen antreten, die einigermaßen wissen, was sie erwartet und wieviel
Training dafür wirklich notwendig ist.
In der Vorbereitung des Stunt100 habe ich also auch schon vom UTMB geträumt und die Berichte dazu gelesen.
Als ich die Qualifikation dann hatte, war für mich vom ersten Moment an klar, daß ich den UTMB versuchen
muß. Sechs Jahre, nachdem ich davon gehört hatte, sollte es für mich soweit sein.
ABER nach dem Stunt100 bin ich in ein Loch gefallen, so tief wie ich es nie erwartet hatte. Das Training viel
mir immer schwerer und auch so klasse Marathons wie Brocken und 7Gebirge konnte nichts daran ändern, daß
ich nach und nach immer schlaffer wurde. Der innere Schweinehund, der mich vom Laufen abhalten wollte, wuchs und
wuchs, bis er im Januar fast unüberwindlich wurde. Trotzdem habe ich mich dann für den UTMB angemeldet,
in der Hoffnung daß mir das den nötigen Schwung für's Training gibt: Fehlanzeige. Ich wurde immer
fauler und müder, von Schwung keine Spur. Der UTMB rückte immer näher, aber ich hab' einfach den
Arsch nicht hoch bekommen und wollte meinen Traum schon begraben.
Da habe ich Ende April im Forum von Runnersword mein Problem gepostet und um Rat gefragt. Neben vielen
guten Ratschlägen kam das rettende Angebot von Jeck. Er wollte mit mir zusammen trainieren. Wie 2008 beim
Königsforst-Marathon ein Jahr zuvor, hat er es auch diesmal geschafft mich zu motivieren. Es war wie ein Wunder:
auf einmal konnte ich wieder richtig angreifen, war voll da und wollte den UTMB. Das Feuer war wieder an und ich hatte
noch gut 120 Tage Zeit zu trainieren.
Beim Training habe ich das Augenmerk auf lange Nachtläufe gelegt und das Laufen unter Müdigkeit
besonders geübt. Ich bin nämlich nachts ein echtes Weichei. Die kleinste Blase fühlt sich an wie
eine riesige Wunde, der kaum gezähmte innere Schweinehund wird zur Bestie und außerdem habe ich Angst
vor Wildscheinen, knackenden ästen, unheimlichen Geräuschen und allem Anderen. Diese Schwäche in der
Nacht wollte ich überwinden. Außerdem wollte ich möglichst viele Höhenmeter machen. Das ist in
Köln sehr schwer, weil die Gegend überwiegend flach ist. Glücklicherweise arbeite ich in der Nähe
eines größeren Hochhauses mit gut 40 Stockwerken. Dort gibt es ein kahles, leeres und völlig einsames
Beton-Treppenhaus, das außer mir niemals jemand verwendet. Dort habe ich manchmal in der Mittagspause ein paar
hundert Höhenmeter gemacht und mache Nächte verbracht. Das war gut für die Beine, aber sehr hart für
den Kopf. Stunden und Stunden in diesem Treppenhaus auf und ab, jeweils 150m: Urghh. Der dritte Punkt in der Vorbereitung,
der genauso wichtig wie Nachtläufe und Höhenmeter ist, war Ego-Boosting in der Tempering-Phase. Auf Deutsch: in
den letzten beiden Wochen vor dem UTMB habe ich keine Kritik mehr angenommen. Da wo mir negative Rückmeldung drohte,
habe ich mich mit Blick auf den Lauf entschuldigt und gebeten, das Gespräch auf danach zu verschieben. Vor dem Lauf
wollte ich nur Positives hören. Mein Plan war, daß ich nach dem Lauf so von Glückshormonen
überschwemmt sein würde, daß ich mit jeder Kritik problemlos fertig werde.
Zwei Wochen vor dem UTMB hat Wolfgang Olbrich einen Lauf rund um Köln organisiert: 170km auf dem
Köln-Pfad.
Ich wäre so gerne dabei gewesen! Aber ich hatte Angst, mich zu sehr zu verausgaben und habe statt dessen
mit Markus gemeinsam den Verpflegungsstand bei Km100 gemacht. Ein riesiger Spaß, nicht nur wegen der super
netten Teilnehmer. Ein toller Tag voller Sonne und Wärme und Freundlichkeit.
Als ich zum UTMB abgeflogen bin hatte ich 2009 genau 1657 km gelaufen: viel weniger als alle anderen, mit
denen ich mich unterhalten habe. Allerdings war davon ein großer Teil (886km) in den letzten drei Monaten, so
daß mein 12-Wochen Km-Schnitt bei 64km/Woche lag. In diesen drei Monaten hatte ich drei Läufe von gut 100km
und das geile Wetterstein-Training.
Es hätte viel mehr sein müssen, aber es ist wie es ist und so muß ich starten: kann sein, daß
ich ankomme. Eine Freundin hat mich am Abend vor dem Abflug gefragt, wie hoch ich meine Chancen auf ein Finish
einschätze. Angesicht von mehr als 2000 Jahres-Km bei den meisten anderen Startern, mit denen ich im Vorfeld
in Kontakt war, habe ich auf gut 40% getippt. Mehr hab' ich mir nicht gegeben.
Donnerstag morgen in aller Frühe im Flieger von Düsseldorf nach Genf. Außer mir sind nur
Anzugträger im Jet, das Durchschnittsalter ist etwa Mitte Hundert und das Durchschnittsvermögen wahrscheinlich
unermesslich. In diesem Umfeld bin ich jedenfalls erst mal der Fitteste, was sehr gut für mein Ego ist :-) Mit dem
Zug geht's wunderschön am Genfer See entlang bis Martigny, wo ich in die Panoramabahn nach Chamonix umsteige. Mit
um die 20% Steigung, herrlichen Ausblicken und der Fahrt durch Spiral-Tunnel ein Abenteuer für sich. Außerdem
treffe ich im Zug eine Teilnehmerin des TDS, ein kleiner Ableger des UTMB, ähnlich wie der bekanntere CCC. Sie kommt
aus Alaska und kann unglaubliche Geschichten über Training in der Polarnacht, Ice-Roads, Eisbären, Kälte
und Wildnis erzählen. Allein für die Unterhaltung mit ihr hätte sich die Anreise gelohnt!
In Chamonix angekommen, gehe ich als erstes zum Check-In. Weil es noch recht leer ist, kann ich niemand hinterher
gehen und finde innerhalb der Halle den Eingang nicht auf Anhieb. Dann geht aber alles ganz schnell: die Personalien
werden kontrolliert, der Rucksack wird markiert und ich bekomme meine Startnr. Außerdem treffe ich Heiner und
Thomas, bei denen ich mich einklinke. Heiner ist so nett mich bis zum Campingplatz etwas nördlich von Chamonix
mit zu nehmen. Dort treffe ich nach einiger Zeit auch wie verabredet Andreas, der in seinem Auto das Zelt mit bringt.
Bis hierher war alles easy und klasse. Das Wetter ist fantastisch und wir haben einen wunderschönen Abend. Ich bin
völlig entspannt und habe alle meine Alltagssorgen komplett in Köln gelassen. Hier gibt es nur mich und den
Lauf und Andy und Thomas, der uns Gesellschaft leistet, und über allem den Mont Blanc, dessen weißes Haupt
ich vom Zelt aus sehen kann. Ich bin glücklich hier zu sein.
In Chamonix ankommen
Der Freitag beginnt mit einem gemütlichen Frühstück mit Andy und Thomas. Außerdem treffen
wir Marianne, die auch auf dem Platz ist. Während Andy noch ein paar Besorgungen macht, faulenzen Thomas und ich
vor dem Zelt. Vor Nervosität immer noch keine Spur, die Sonne scheint, die Gletscher über uns stahlen. Dann
fahren wir noch mal nach Chamonix um unsere Kleiderbeutel für Courmayeur ab zu geben und an der Pasta-Party teil
zu nehmen. Vor der Halle, in der das große Fressen stattfinden soll, ist es richtig heiß, es bildet sich
eine sehr lange Schlange und alle Läufer stehen in der vollen Sonne. Alle Läufer? Nein, nicht alle Läufer:
die ersten 15, zu denen wir, unserer Pünktlichkeit sei dank, gehören, haben Schatten. An dieser Pünktlichkeit
bin ich nicht unschuldig, denn auch wenn ich mich ganz entspannt fühle, habe ich doch irgendwie "Hummeln im
Hintern". Ich will jetzt endlich starten und diese Warterei ist für mich sehr ungewohnt. Nach dem Essen fahren
wir zurück zum Campingplatz und haben immer noch ewig Zeit bis es losgeht. Wir ziehen uns um, füllen die
Rucksäcke und jeder prüft noch mal die Ausrüstung. So langsam wird es ernst, jetzt darf ich nichts
mehr vergessen. Mein Leben könnte davon abhängen.
Kleiner Exkurs: außer der vorgeschriebenen Ausrüstung wie Rettungsdecke, Trillerpfeife, Verband, etc.
hatte ich dabei: Sonnencreme, Koffie-Tabs, MP3-Player, Kamera, Taschentücher, Schokolade, Riegel, Sonnenbrille,
Rucksack von RaidLight, Schuhe Asics Trabuco mit Gamaschen, Geld, Zeit/Höhenprofil, Teilnehmer-Karte und das
Startnummernband. Was ich nicht dabei habe, sind Stöcke. Nach vielen Trainings-km und Läufen mit Stöcken,
habe ich fest gestellt, daß sie bei mir irgendwie den natürlichen Rhythmus meiner Füße stören.
Beim UTMB schleppen gut 98% aller Läufer Stöcke, aber ich weiß, das sie z.B. auf Reunion verboten sind:
es muß also auch ohne gehen.
Vor dem Start
Wir gehen zum Bahnhof und ich frage etwa zehnmal, wann denn der Zug kommt (der Campingplatz Mer Du Glaz liegt
genau eine Station von Chamonix entfernt, die Fahrt ist für Läufer gratis). Ich schaue ständig auf die
Uhr und habe Angst, daß etwas schief gehen könnte. Wenn der Zug nun ausfällt? Ich rechne in Gedanken
durch, wie lange wir brauchen würden, wenn wir zurück zum Zeltplatz laufen und mit Andys Auto fahren würden.
Der Zug kommt auf die Minute (eine ewig lange Minute!) pünktlich und wir passen auch alle rein, ob wohl es sehr
eng ist. Gemeinsam im großen Schwarm gehen wir zum Start.
Kleiderbeutelabgabe
Es ist voll und die Stimmung ist aufgekratzt. Alle sind sehr angespannt, aber ernst. Es ist diese eigenartige
Mischung aus sehr viel Respekt vor der kommenden Aufgabe und Vorfreude. Wir alle hier stehen vor etlichen sehr schweren
und hoffentlich einigen sehr schönen Stunden. Jeder von uns hat sehr lange für dieses Abenteuer trainiert,
denn der UTMB ist für jeden eine Herausforderung. Einen Marathon, vor allem im Flachen: kein Thema. Auch 100km
sind im Grunde überschaubar. Aber 100Meilen im Hochgebirge mit den harten Zeitlimits des UTMB: gibt es Menschen,
die da ein Finish sicher garantieren können? Ich glaube nicht. Und grade deshalb sind wir hier. Deshalb bin ich
hier. Weil es ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang ist. In all dem Franzischen Gerede ist meist auch eine Englische
übersetzung vorhanden (bei Startern aus gut 40 Nationen auch angebracht). Deshalb bekomme ich mit, auf der
Großleinwand die Gesichter von drei beim UTMB Verstorbenen gedacht wird. Laut Sprecherin sollen wir nicht
schweigen, sondern eine Minute richtig feiern, aber es wird trotzdem die leiseste Minute von allen. Kein Wunder,
denn auch mir bringen die Gesichter im schwarzen Rahmen noch mal sehr deutlich den Ernst der Angelegenheit vor Augen.
Ich denke an meine Kinder und verspreche mir selber, lebend zurück zu kommen.
Die Musik läuft, immer wieder Vangelis Conquest of Paradise, und ich habe eine Gänsehaut vom aller
feinsten. Ich habe mir wohl hundert Videos vom Start im Internet angeschaut und mir wohl tausendmal vorgestellt wie
es ist, wenn ich dabei bin. Für diejenigen, die jetzt in dieser Situation sind: es ist überwältigend!
Sogar jetzt, beim Tippen dieser Zeilen, fühle ich wie sich jedes einzelne Härchen meiner Arme aufstellt,
wie sich meine Haut am Rücken zusammen zieht und ich vor Freude sofort losrennen möchte.
So sieht das Gefühl beim Start aus
Dann geht es los und wir traben durch den Startbogen. Danach geht es durch die Stadt und es ist noch voll,
aber nicht so voll als das wir nicht laufen könnten. Nach dem wir aus dem Ort raus sind, geht es auf einem
flachen Forstweg durch den Wald und wir kommen bald nach Le Huches. Die Sonne scheint, alle sind gut drauf und ich
bin auch gut drauf. Jetzt wird es aber schon bald dunkel und den ersten von zehn großen Anstiegen beende ich
schon mit der letzten Dämmerung. Oben sind ein paar Fackeln, was die Nacht noch dunkler macht. Ich bin immer
noch ohne Stirnlampe unterwegs, auch auf dem folgenden Abstieg, aber es sind so viele gut beleuchtete Raider um
mich herum, daß ich keine brauche. Ich habe einfach keine Lust anzuhalten, denn es läuft grade so flüssig.
Ein dunkler Forstweg führt mich zwischen zwei Häusern hindurch eine steile Treppe hinunter und ich
stehe im Stadtkern von Saint Gervais. Der übergang ist so unvermittelt, daß er noch markanter wirkt. Die
Stimmung ist super und ich orientiere mich an den zahlreichen Tischen, was es denn leckeres gibt. Als erstes finde
ich das Wasser für den Trinkrucksack. Ich entscheide mich für zwei Becher Cola und einen Teller Suppe und
stecke mir ein paar von den leckeren Riegeln und Schokolade für unterwegs ein. Diesen Ablauf aus Rucksack
nachtanken, Cola, Suppe und Schokolade behalte ich über das ganze Rennen bei. Außerdem trage ich ab
hier die Stirnlampe. Ich bin über eine Stunde vor dem Zeitlimit und kann also weiter so ruhig und entspannt traben.
Die erste Nacht
Meine Laune ist immer noch blendend, ich fühle mich wie auf einer Nachtwanderung als Schüler.
Alles ist neu und aufregend und super. Bald taucht das Dorf Notre Dame George aus dem Dunkel auf, ein blutrot
angestrahlte Kirche mitten im Wald. Sieht von weitem etwas gruselig aus, aber von Untoten oder Zombies keine
Spur. Nur fröhliche Franzosen. Gleich nach dem Dorf geht es zum ersten Mal richtig bergauf, der Croix du
Bonhome wartet auf uns. Auf dem Weg nach oben ziehe ich dann auch meine Jacke an, denn es ist kalt geworden.
Oben serpentiert der Weg relativ anspruchsvoll über einen flachen Gipfel oder Pass, im dunkeln ist das
nicht zu erkennen, und wieder runter. Es ist leicht nebelig und die vielen parallelen Pfade und Spuren irritieren
mich. Aber ich komme runter, ohne groß zu stolpern, auch wenn's schwer ist.
Die erste Nacht
Gegen halb fünf, gut 1:45hh:mm vor dem Zeitlimit, bin ich wieder unten im nächsten Tal und habe die ersten 50km
geschafft. So weit so gut, aber so langsam bin ich schon etwas müde. Vor allem, weil ab jetzt eine unendlich lange, flach a
nsteigende Asphalt-Straße kommt, die einfach kein Ende nehmen will. Als ich das erste Mal in Sekundenschlaf falle, schreck
ich hoch, aber alles ist gut. Ich bin noch mitten auf Straße und gehe. Mir schwimmt alles vor den Augen und mir ist
schwindelig. Ich gehe weiter und meine Gedanken schweifen ganz woanders. Durch den ersten, zufälligen, Versuch ermuntert,
lasse ich mich jetzt immer wieder absichtlich mit einem tiefen Atemzug in den Sekundenschaf fallen. Jedes mal blitzten wirre
Traumbilder durch meinen Kopf, Gesichter, Menschen, Tage. Und jedes mal wache ich auf und gehe die Straße entlang. Nach
einer halben Stunde und nicht mehr als zehn Traumphasen, bin ich beinahe ausgeschlafen und bereit für den dritten Aufstieg
zum Col de la Seigne.
Der Samstag morgen
Der Aufstieg zum Col de la Seigne ist allerdings sehr hart, es ist eisig kalt, nebelig und windig. Gut daß ich
ausgeschlafen bin. Der Nebel fällt um so mehr auf, weil es langsam hell wird. Von hier aus geht es ein langes und
einsames Tal Richtung Lac Combal. Von den Gletschern und Schneefeldern über uns strömt eisige Kälte herab
und ich bin sehr froh, als ich im Camp endlich heiße Suppe schlürfen kann. AAAhh, tut das gut! Da ich meine 1:45
Vorsprung auf den Cut-Off gut verteidigt habe, gönne ich mir die Zeit, für mehr als eine Suppenschale.
Bei Lac Combal
Kurz hinter Lac Combal führt der Pfad um eine Bergecke und ich fühle mich, als würde ich
aus dem Kühlschrank in die Sauna gehen. Das kahle und eisige Hochtal, das im Schatten der umgebenden Berge
friert wird ganz plötzlich von sonnigen Almen ab gelöst. So sieht Heidi-Land aus! Es ist auf einmal warm
und schön und ich bin immer noch gut unterwegs. Noch ein kleiner Hügel von gut 500Höhenmetern, im
Französischen D+ genannt (denivelee positive), und der wunderschöne Abstieg nach Courmayeur steht bevor.
Der Pfad führt in steilen Kehren durch einen Kiefern-Wald, auf den die Sonne schein. Es duftet so wunderbar wie
nur ein heißer Kiefernwald im Sommer duften kann. Der schönste Sauna-Aufguss kann nicht besser sein.
Courmayeur
In Courmayeur nehme ich meinen Kleiderbeutel in Empfang und gehe in die große Halle um wie immer meinen
Dreisatz zu machen: Tanken, Cola und Suppe. Im Saal sitzen viele Raider an langen Tischen. Eine Frau nah bei mir
fällt mir auf, die mich mit einem irgendwie seltsamen Blick anschaut. Kenne ich die? Hab' ich einen Namen
vergessen? Bevor ich den Ausdruck in ihren Augen noch richtig deuten kann, sackt sie plötzlich zusammen und
rutscht von ihrem Stuhl. Ich hatte vorher die wichtigsten Französischen Formulierungen auswendig gelernt,
z.B. " Ils appellent rapidement un medecin, sil vous plait ". Aber jetzt, da ich sie in meinen Armen
halte, ist in meinem Kopf keine Spur von Französisch übrig. Aufgeregt rufe ich so laut ich
kann: "Hallo, Hallo, Hilfe,Hilfe.." Glücklicherweise kommen auch ohne Sprachkenntnisse sofort
mehrere Sanis mit Trage gelaufen. Mir ist komisch zumute und ich bin betroffen und gestresst. Nichts wie weg hier.
Der Aufstieg zum Refuge Bertone ist das Gegenstück zu dem wunderbaren Kiefernwald vorhin. Es ist sehr
heiß, mindestens gefühlte 30°C, und zwischen den Bäumen rührt sich kein Lüftchen. Die 800m
Aufstieg ziehen sich scheinbar ewig und die wohlige Wärme beim Abstieg empfinde ich jetzt als stickige Hitze. Die
Luft ist dicht und kompakt und ich schwitze aus allen Poren. Endlich, endlich komme ich aus dem Wald und kann wieder
Wind spüren. Bald darauf kommt auch Bertone in sicht und ich habe etwa die Hälfte der Strecke geschafft.
Nach dem sehr harten Aufstieg in der Hitze des Waldes kommt nun ein besonderes Schmankerl. Es geht nur leicht
profiliert und ohne nennenswerte Steigungen bis zum Refuge Bonatti über wunderschöne, sonnige Wiesen. Bei
bestem Heidi-Wetter und herrlichem Ausblick auf die Ostseite des Mont Blanc fühle ich mich relativ gut und
genieße den Lauf. Ich merke zwar, daß ich eine Nacht nicht geschlafen und seit gut zwanzig Stunden
unterwegs bin, aber die Sonne scheint und ich komme hier gut voran, so daß ich noch keine ernsten Sorgen habe.
Auf einmal höre ich, dank der perfekten Bergstille, ein paar Meter vor mir, hinter einem Gebüsch, die Stimme
von Andy! Er telefoniert grade mit Markus und hat so unsere aktuellen Positionen sofort parat. Natürlich laufen
wir ab jetzt gemeinsam, das ist uns beiden auch sofort klar. Es tut mir sehr gut endlich einen Gesprächspartner
zu haben, denn ich habe seit dem Start außer meinen paar Französischen Brocken nichts gesprochen oder verstanden.
Bertone
Ich habe mir in das offizielle Höhenprofil der Strecke die Cut-Off-Zeiten eingezeichnet und trage dieses
Blatt bei mir. Von Bonatti bis Arnuva geht es, laut Profil, vier Kilometer leicht bergab. Der Pfad ist schmal aber leicht
zu laufen und so traben wir guten Mutes vor uns hin, vor uns hin, und traben, und laufen, und wundern uns. Arnuva kommt
einfach nicht. Nach über einer Stunde sehen wir weit entfernt unter uns im Tal eine Hütte. Soll DAS erst Arnuva
sein? Wir können es nicht verstehen und überprüfen immer wieder das Höhenprofil, aber es sind
tatsächlich nur vier Kilometer angegeben: Bonatti km90 bis Arnuva Km94. Meine Mathe ist beim Laufen immer besonders
schlecht, aber kann es sein, daß wir wirklich fast zwei Stunden lang laufen müssen, um vier Kilometer zu
schaffen? Andy und ich vermuten, daß hier die Vermessung verbessert werden kann. Aber da die lange Laufdauer
hier anscheinend mit einkalkuliert ist, halte ich meinen Vorsprung von nicht ganz zwei Stunden auf Cut-Off auch in Arnuva ein.
Bonatti
Jetzt kommt der Aufstieg zum höchsten Punkt des UTMB, der Grand Col Ferret. Schon von weitem sehe ich,
wie sich die Wolken über den hohen Pass pressen, der vor uns liegt. Wir laufen bzw. Wandern im schönsten
Schein der Nachmittags-Sonne ein sehr einsames Hochtal entlang, das im Norden von einem scharfen Grat weit über
uns beendet wird. Die Gegend ist wild und frei und außer unserem Pfad deutet nichts auf die Anwesenheit der
Spezies Mensch auf diesem Planeten hin. Doch: der weite Abstand, den die Gletscher über uns zu ihren
Moränen haben, zeigt, daß sie nur noch etwa die Hälfte ihrer ursprünglichen Länge
haben. Wir zerstören wohl vor allem da, wo wir grade nicht wohnen.
Grand Col Ferret
Am Grand Col Ferret geraten wir in die Wolken, die wir von unten schon gefürchtet haben. Es ist eisig
kalt und sehr stürmisch, so daß wir nur für ein kurzes Foto anhalten. Ich bedauere und bewundere
die einsame Gestalt, die hier im dicken Polar-Anzug die Stellung hält, um die Startnummern der Raider zu scannen.
Von hier aus geht es erst mal runter, weit runter. Das nächste Tal ist genauso leer wie das vorhergehende und die
Sonne, die hinter dem Mont Blanc-Massiv untergeht, taucht die Matten in Dunkelheit. Laut Höhenprofil sind es vom
Pass bis La Fouly neun Kilometer und es geht immer nur abwärts. Andy und ich laufen also die ganze Zeit. Trotzdem
brauchen wir über zwei Stunden bis wir endlich, endlich unten sind. Und "unten" bedeutet noch lange nicht,
am Revitalment zu sein. In der hereinbrechenden Nacht schmerzen meine Beine und Füße und die große
Müdigkeit kommt angekrochen. Sie nimmt die Spannung aus meinem Körper und zieht meine Schultern nach vorne.
Der Kopf sinkt herab und jeder Schritt rüttelt im erschöpften Gerüst meiner Knochen. Endlich erreichen
wir La Fouly.
La Fouly
Ich hatte gehofft, Andy würde mich unterhalten, unterstützen, aufmuntern und verhätscheln:
große Fehlanzeige! Andy legt sich schlafen. Ich werde hier schon unruhig und scharre mit den Hufen, aber ich
habe Angst davor, alleine in der Nacht zu sein. Daher nerve ich ihn mit meiner Eile. Etwa anderthalb Stunden nach
La Fouly beginnt der Aufstieg nach Champex Lac. Am Berg wäre ich gerne schneller. Ich spüre, daß
Andy und ich zusammen bleiben sollen, daß es illoyal wäre ihn jetzt zu verlassen. Auf der anderen Seite
fürchte ich zu nah an's Zeitlimit zu geraten oder gar zu scheitern, wenn ich bei ihm bleibe. Außerdem
ist es hier am Ende des Feldes verdammt einsam, so daß eine Trennung bedeuten würde, daß ich ganz
alleine bin. Ich hadere mit mir bis ich mich entscheide, es alleine zu machen. Ich will es, ich kann es, ich mache
es und ich schaffe es! Ich schließe mich der nächsten überholenden Gruppe an und wandere langsam mit
denen den Berg hinauf.
Campex Lac sieht aus wie jede andere Stadt: Lichter, Lampen und Häuser. Im Hellen bestimmt wunderschön,
aber jetzt nach Mitternacht weiß ich selbst die Schönheiten die evtl. zu sehen wären, nicht zu würdigen.
Danach geht's wieder durch den Wald und ich komme an ein paar Wohnwagen vorbei, die an einem schmalen Pfad am Berg abgestellt
sind. Erst freue ich mich, daß hier wohl Fans an der Strecke sind. Dann frage ich mich, wie die wohl die Caravans hier
hin bekommen haben. Erst als ich unmittelbar daran vorbei laufe und sich die Perspektive dabei verschiebt, wird mir klar,
daß es einfach nur helle Felsen sind, wie ich schon Hunderte vor her passiert habe. "Ah", denke
ich, "jetzt kommen die Halluzinationen". Natürlich weiß ich, daß so was kommen würde,
denn fast alle, die hier gewesen sind haben mir davon erzählt. Selber zu halluzinieren ist aber gar nicht so schlimm.
Ich sehe und staune nur.
Ich trabe hier auf einem breiten Forstweg voran. Die nächsten Läufer sind weit entfernt und mir macht
die Müdigkeit zu schaffen. In meinem Kopf entsteht ein Summen und ich kann mich kaum noch konzentrieren. Aber der
Weg ist nicht asphaltiert und an kontrollierte Sekundenschläfchen wie in der Nacht davor ist nicht zu denken. Die
Müdigkeit ist wie eine warme weiche Wolldecke um meinen Kopf gewickelt RASCHEL Ich stehe in einem Gebüsch,
Marke dornig, brombeer-artig. Mir ist sofort klar, daß ich trotz allem eingeschlafen bin und ich versuche mich zu
orientieren. Der breite Forstweg ist weg, ich befinde mich am Rand eines einfachen Wanderweges. Die nächste
Wegmarkierung ist nicht weit weg und auch andere Raider sind in Hörweite. Ich bin also zumindest auf der richtigen
Strecke. Ein großer Teil von mir hofft, daß ich möglichst viel Weg verschlafen habe, schon weit gekommen
und bald an der nächsten Verpflegungsstelle bin. Aber ich bin auch sehr froh, das daß Gebüsch ein
Gebüsch und kein Abgrund war. Das hätte schief gehen können. Nur wacher bin ich nicht geworden und
schon nach wenigen Schritten drifte ich wieder ab. "Halt, so geht das nicht!" rufe ich mir zu. Ich höre
hinter mir Stimmen und warte, bis die Gruppe bei mir ist. Es sind Franzosen und ich schließe mich an, obwohl ich
kein Wort verstehe. Bald darauf holen wir eine Dreier-Gruppe Amerikaner ein und ich frage, ob ich mich dran hängen
darf. Endlich wieder eine Unterhaltung. Wir erzählen uns von unseren Läufen und ich höre aus erster Hand
Geschichten vom Hardrock-Hundred erzählen: muß toll sein!
Bovine. Da steht das Schild zum Bovine. In allen Erzählungen und Berichten vom UTMB ist der Aufstieg zu diesem
Berg die Schlüsselstelle. Ein sehr schwieriger Pfad, der etwa sechs- bis sieben-hundert Höhenmeter hinauf
führt. Dabei muß ständig über große Wurzeln, kniehohe Steine und teilweise Hüfthohe
Felsen geklettert werden. Ab und zu überqueren wir ein breites Bachbett aus wild zusammen gewürfelten,
Tischgroßen Gesteinsbrocken. Ich kann mich nur allen anderen anschließen: der Bovine IST hart. Jens hat es
formuliert: "Oh Bovine, Du Schwein!" besser kann ich es auch nicht sagen. Mir geht es jetzt sehr schlecht,
denn die Schwierigkeit des Weges hat die Müdigkeit verdrängt. Alle paar Schritte muß ich jetzt stehen
bleiben um Atem zu holen. Und mein Herz klappert in der Brust wie eine rostige Blechkugel in einer morschen Holzkiste.
Ich kann fühlen, wie es an den Rippen rappelt. Ich denke an meine Familie, der ich versprochen habe lebend wieder
zu kommen. Ich denke an meinen Vater, der an Herzversagen gestorben ist. Auf einmal kommen ein paar Füße in
den Lichtkegel meiner Stirnlampe. Ich leuchte beim nächsten Schritt die Beine entlang und kann einen Schläfer
erkennen, der wohl ein Läufer sein wollte. Er liegt hier der Länge nach auf dem Pfad und schläft.
"Armer Kerl" denke ich und gehe weiter. Auf einem Stein sitzt jemand und schläft mit leerem Gesicht:
unheimlich. "Wann hat dieser Berg ein Ende?" frage ich mich und lege den Kopf weit in den Nacken um die
Stirnlampen hoch über mir zu erkennen. Zu meinem Schrecken sehe ich, daß sich die Bergwand wohl fast
senkrecht auftürmt, denn die nächsten vier Lichter sind fast über mir. "OH NEIN!" Schwarze
Verzweiflung ergreift mich. Ich werde das niemals schaffen, das kann ich einfach nicht. Noch einmal schaue ich nach
oben, nur um sicher zu gehen und stelle fest, daß die Lichter nicht etwa Stirnlampen sondern die Sterne des
kleinen Wagens sind. Die Flanke wird schon deutlich flacher und über mir scheint ein wunderbarer Nachthimmel.
Erleichterung und Freude durchströmt mich, genauso wie Sekunden zuvor die Verzweiflung.
Bovine
Revitalment Bovine. Ein graues Zelt in schwarzer Nacht. Ich fühle mich SCh..äh: schlecht. Essen,
Tanken, Trinken, weiter. Es geht immer noch mäßig Bergauf und als nächster Spaß hat ein Bach
auf 15m Breite den Weg in eine Schlammgrube verwandelt. Ich klettere darum herum und fluche ein bisschen. Da
andere Raider in der selben Matsche stecken, versuche ich es mit "Merde", aber ich bekomme keine Antwort.
Ihre Köpfe hängen zwischen den Schultern, ihre Rücken sind gebeugt und ihre Gesichter im Gegenlicht
ihrer Stirnlampen verborgen. Ich mache es auch alleine. Es geht bergab, laut Profil 700 D- auf sechs Kilometer. Der
Weg ist ein schwerer schmaler Wurzelpfad im Wald und es dauert ewig. Außerdem habe ich immer größere
Probleme, Dinge als das zu erkennen, was sie sind. So versuchen meine Füße immer wieder den weichen grauen
Topflappen aus zu weichen, die überall auf dem Waldboden liegen. Da sind natürlich keine Topflappen sondern
schlichte graue Steine, aber es könnten Topflappen sein. Und bloß weil die letzten tausend grauen Flecken
auf dem Boden Steine waren könnte der 1001 trotzdem ein Topflappen sein. Mehrfach stolpere ich, weil ich abrupt
meinen Schritt korrigiere. Wieder kommt mir der Verdacht, daß es weit mehr als die angegebenen sechs Kilometer
sein müssen, denn ich trabe da wo es mir möglich ist und habe ansonsten einen guten Wanderschritt, aber
Trient kommt nicht. Statt dessen sitzt auf einmal eine Kröte auf dem Weg. Ihr linkes Bein steht seltsam ab,
wahrscheinlich ist einer der Läufer auf sie drauf getreten. Ich bleibe stehen und leuchte sie mit meiner
Stirnlampe an, aber sie rührt sich nicht. "Das ist nicht real" sage ich mir, aber da scheint sie zu
zittern. Also doch eine lebende Kröte. Ich möchte ihr helfen, vom Weg runter zu kommen und beuge mich zu
ihr runter. Ich berühre eine schlichte Kiefernwurzel. Reingefallen. 11/2 Stunden nach dem Bovine erreiche
ich ein dunkles Dorf und freue mich schon, als ich ein kleines hölzernes Wanderschild sehe, "Trient
30min" steht dort. Das darf doch nicht wahr sein! Ich könnte kotzten! Voller Zorn laufe ich langsam
weiter, denn allmählich rückt die Cut-Off-Zeit heran. In Campex Lac war ich über zwei Stunden
vor dem Limit, davon ist jetzt nur noch wenig übrig. Da vorne steht endlich ein Posten mir oranger Warnweste,
da muß es sein. Aber Fehlanzeige, er winkt mich mit einem Leuchtstab über die Straße und versucht
mich mit: "Dix minutes" zu ermuntern. Objektiv gesehen ist das toll von ihm, mir hier im Morgengrauen so
was Fröhliches zu zu rufen. Ich könnte ihn umbringen, weil ich immer noch nicht da bin.
Trient. Der Himmel wird grau, der Sonntag kommt und die Stimmung ist super. Die Stimmung ist super? Nein,
meine Stimmung ist im Keller. Nicht die Verzweifelung vom Bovine, sondern ärger über die anscheinend
falschen Angaben im Höhenprofil. Tatsächlich bin ich richtig wütend. Ich will meine Finisher-Weste!
Wehe, wenn ich meine Weste verpasse, bloß weil die zu blöd sind ein Profil mit vernünftigen
Kilometerangaben zu machen.
Kleiner Einschub: Egal ob die Kilometer stimmen oder nicht: die Zeitlimits sind hart aber gerecht und den
tatsächlich zu laufenden Zeiten angemessen. Anstatt mich zu ärgern hätte ich mehr trainieren
können. Ich bitte um Verzeihung, falls ich um Trient rum irgend jemand ungerecht angemault habe. 140km
in zwei Nächten laufen: da reicht die Willenkraft nur noch, den Körper zu kontrollieren, die Emotionen
machen was sie wollen. Sorry.
Jedenfalls bin ich jetzt stink sauer. Aber Wut nützt nichts, jetzt muß ich laufen, wenn ich das
Ziel noch im Zeitlimit sehen will. Hier in Trient liege ich etwa auf Platz 1300 und wohl am Ende des Feldes. Ich
habe keine Ahnung, ob Andy noch im Rennen ist, oder nicht, aber jetzt muß ich mich sputen. Ich ziehe mich
um und entscheide mich, im Gegensatz zu allen anderen Läufern, für Kurz-Kurz. Beim Klamottenwechsel
stoße ich im Rucksack auch auf meinen MP3-Player. Ahh, der kommt grade richtig.
Ich trabe vorsichtig los, im selben ruhigen Tempo wie in der letzten Viertelstunde vor Trient, und bemerke,
daß es geht. Es geht jetzt steil hoch zum Cartogne, dem vorletzten der zehn großen Hindernisse. Ich kann
erstaunlicher weise gut mithalten, sogar mit den stärksten Läufer um mich herum und beschließe an
denen dran zu bleiben. Mir wird warm und "ES" läuft immer besser. Ich fange an zu traben, bergauf
wohlgemerkt, und kann das sogar genießen! Immer schneller laufe ich den Berg hoch und bin begeistert, denn
ich fühle mich sehr gut. Erstaunt horche ich in mich hinein, fürchte zu überzocken, aber alles ist
ok. Das Herz schlägt relativ ruhig, der Atem ist entspannt, nichts deutet auf einen bevorstehenden Kollaps hin.
Also lasse ich mich von meiner Freude leiten und laufe die 700 Höhenmeter zum Cartogne hoch. Nach etwas über
einer Stunde bin ich schon oben. Zum Vergleich: für die 700 Höhenmeter von Campex Lac bis auf den Bovine habe
ich fast vier Stunden gebraucht. Es ist fantastisch.
Oben am Cartogne scheint schon die wunderbare Morgensonne, aber das Gras ist leicht überreift. Trotzdem
schwitze ich, denn ich renne immer schneller. Jetzt geht es bergab nach Vallorcine. Oben sehe ich im vorbei rauschen
ein Wanderer-Schild: Vallorcine 2 Stunden. Aber ich renne wie von Sinnen den Berg hinab, fliege grade zu. Ich über
hole immer schneller, einen nach dem Anderen. Nein, ich überhole nicht: ich fresse die anderen Raider geradezu. Ich
habe auf einmal keine Mitläufer, Kameraden oder Leidensgenossen mehr: nur noch Hindernisse, an denen ich vorbei renne.
Eine nie gekannte Begeisterung erfüllt mich. Die Begeisterung bricht in Schallwellen aus meiner Brust und ich
brülle vor Freude. Ich sehe an einer Wegkehre ein paar müde Gestalten, die auf ihre Stöcke gestützt
um die Kurve humpeln. In einem Sprung über mehr als meine Körperhöhe kürze ich ab und lande unterhalb
der Gruppe auf dem Weg. Die Musik im Kopfhörer kann ihr Erstaunen nicht übertönen und ich bekomme das
große Grinsen. Meine Füße finden mit einer Sicherheit ihren Weg, die über jedes Maß hinausgeht.
Ich springe einen üblen Wurzelpfad hinab und habe bei jedem Schritt absolute Gewissheit. Mein Körper
weiß nichts von den vergangenen Bergen, Tagen und Nächten. Ich habe eine Kraft, wie nie zuvor. Ich kann
laufen, als würde ich zu hause frisch geduscht Brötchen holen.
Ich kann einen anderen Läufer einholen, der fast genauso schnell ist wie ich. Beim überholen blicke
ich ihn an und sehe, daß auch er vor Begeisterung strahlt. Wir rennen ein bisschen zusammen und ich spüre,
das wir für unser Stirnlampen jetzt keine Batterien mehr brauchen würden. Die pure Induktions-Spannung unserer
Euphorie würde reichen, um ein ganzes Stadion in gleißendes Flutlicht zu tauchen. Wenige Meter oberhalb von
Vallorcine überhole ich Berrnie, der mich erkennt und anspricht. Ich schaue ihn an, grüße ihn und bin
von seinen Augen fastsinniert. Niemals zuvor habe ich in so unglaublich blaue Augen geblickt. Aber ich habe jetzt keine
Zeit zu quatschen oder zu staunen, ich muß rennen. Bis Vallorcine habe ich nur 57 Minuten gebraucht und meinen
Vorsprung auf die Cut-Off-Zeit schon auf zwei Stunden ausgebaut.
In Vallorcine brauche ich für Essen, Trinken, Tanken nur 13 Minuten und frage mich, ob ich so einen Run
noch mal hinbekomme. Geht noch so einen Nummer? Die Antwort steckt in mir und will sofort hinaus: ja,
uneingeschränktes ja. Der letzte Berg wartet und ich renne abermals hinauf. Wieder überkommt es mich
und ich surfe auf einer Welle von Kraft den Weg entlang. Ich bin euphorisch, begeistert und stärker als je
zuvor in meinem Leben. Diese Kraft kann nicht mit Training erklärt werden. Hat mir in Trient jemand Koffein
in's Trinkwasser getan? Aber das würde nur die Erschöpfungs-Symptome unterdrücken und keine echte
Kraft verleihen. Und mein Puls ist ruhig, mein Atem immer noch entspannt und meine Muskeln völlig ausgeruht.
Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, aber ich genieße es, so laufen zu können.
Im oberen Teil des La Tete aux Vents wird es sehr felsig und fast so schwer wie am Bovine. Aber hier
begrüße ich die großen Brocken, denn so kann ich die Serpentinen unbesorgt abkürzen.
Ich überhole in fast jeder Kehre einige, langsam und schleppend gehenden Raider, indem ich schlicht die
Felsen hoch springe. Meine Sprünge haben eine schlafwandlerische Sicherheit, wie eine Gemse. Dann bin ich
oben und blicke tief in's Tal hinunter. Dort, mehr als tausend Meter unter mir, sehe ich Häuser und glaube
es wäre Chamonix. Die Begeisterung bricht abermals aus meiner Brust und die Schallwellen tragen leuchtende
Schaumkronen als sie über das Tal strömen: "CHAMONIX!". Der Schlachtruf dringt an mein Ohr
und ich merke, daß ich es mein eigener ist. "CHAMONIX!" Die Gletscher stahlen so weiß, der
Himmel ist blauer als je zuvor, die Wiesen leuchten so intensiv und ich bin berauscht von dieser Schönheit
und Herrlichkeit.
Der Weg nach Le Flegere läuft profiliert am Hang entlang und die Sonne brennt heiß vom Himmel.
Außerdem hatte ich aus irgendeinem Grund erwartet, daß es am La Tete aux Vents zumindest eine Wasserstelle
gibt. Mein trockener Rucksack und die strahlende Hitze dämpfen meinen überschwang etwas, bis der Weg über
einen kleinen Bergbach führt. Da ich das Wasser keine 100meter oberhalb in einem Wasserfall aus den kahlen Felsen
springen sehe, habe ich keine Bedenken es zu trinken und den Rucksack damit zu füllen. AAhhh, tut das gut.
Allerdings wird die Strecke davon auch nicht kürzer und der Weg macht ein paar raffinierte Kurven, hinter
denen ich jedesmal enttäuscht bin, wie weit es noch bis zum gut sichtbaren Reviltalment ist. Irgendwo in
meinem Kopf kommt jemand in mein Büro und legt mir eine unscheinbare Notiz auf den Schreibtisch:
"Deine Füße bekommen Blasen". Aber der Körper kennt immer noch keine Schwäche
und überholt nach wie vor alles, was auf dem Weg auftaucht. Seit Trient vor gut sechs Stunden, musste
ich niemanden vorbei lassen
Ganz unvermittelt bin ich dann in der Verpflegungsstelle, es ist das unauffällige Zelt am Hang und
nicht die große Berghütte weiter weg. Die letzte, die aller letzte Verpflegungsstelle. Noch ein
letztes Mal Essen, Trinken, Tanken und ich könnte bereit sein für den endgültigen Abstieg in's
Ziel. Aber ich bin nicht bereit. Ich bin auf einmal traurig, mir ist zum Heulen. Sechs Jahre geträumt, 18Monate
vorbereitet, über 40 Stunden gelaufen: und jetzt soll das Alles vorbei sein? Das darf doch nicht einfach so aus
sein! Es kann nicht vorbei sein! Es muß weiter gehen! Das ist so unfair. Die 40 schönsten Stunden meines
ganzen Lebens dürfen nicht einfach so enden. Es MUSS eine zweite Runde geben! Es muß weiter gehen!
La Flegere
Der Verstand schiebt diese wirren Ideen beiseite und setzt den Körper wieder in Bewegung. Runter.
Sofort ist die Euphorie wieder da und ich renne im Rausch den Berg runter. Schneller, immer schneller. Meine
Füße finden fast magischen halt am Boden, selbst bei wilden Sätzen über die Wurzeln bin
ich so sicher wie zuhause auf meiner eigenen Kellertreppe. Wieder legt mir jemand einen Hinweis auf den
Schreibtisch, diesmal deutlicher: "Die Blasen an Deinen Füßen sind jetzt offen." Aber
wen stören Blasen, wenn das Ziel nur noch wenige Stunden entfernt ist?
Ein paar gefühlte Minuten später bin ich dann tatsächlich in Chamonix. Und die Kraft
wird noch stärker. Wie bei einem Sprint rase ich durch den Ort. Auf der Strecke stehen Hindernisse mit
Rucksack, Stöcken und Startnummer, an denen ich vorbei springen muß. Wie können die hier im
Weg stehen, wo ich doch grade die hyper-warp-wahnsinnige Endgeschwindigkeit erreiche? Wo geht's lang? Ah, da,
danke! Ortskern, überholen, zwanzig Plätze gut gemacht. Immer schneller. Ich sprinte jetzt
tatsächlich wie von Sinnen, alle Kraft muß jetzt raus und ich beame mich vorbei. Jetzt bin
ich definitiv anaerob, denn die Luft brennt in meinen Lungen, es ist fantastisch. Von Trient bis hier her
habe ich gut 350 Raider überholt und jetzt kommt der Endspurt. Das große Tor, durch. FERTIG. FINISH.
Dort ist eine Bordsteinkante. Ich setzte mich, weine. Mehrfach werde ich angesprochen, ob alles ok ist.
Statt einer Antwort kann ich nur den Daumen hoch strecken, das internationale Zeichen für Lügen. Dann
gehe ich in ein Zelt, wo ich Essen und vor allem Trinken kann. Zum ersten Mal seit Freitag nachmittag mache ich
mein Telefon an. Obwohl ich keine zehn Minuten durch's Ziel bin, habe ich schon Mails und SMS mit Glückwünschen,
denn meine Ankunft steht schon im Internet und ist per SMS an meine Familie verschickt worden. IT-Technisch ist der UTMB
echt auf der Höhe der Zeit. Thomas ruft mich an und trifft mich, denn er ist nur gut 20min vor mir angekommen.
Gemeinsam gehen wir unsere Kleiderbeutel abholen und duschen.
Jeder, der sich für den UTMB interessiert, wird die Melodie des Laufes kennen: Vangelis, Conquest of Paradise.
Aber nur wer diesen Lauf geschafft hat, kann begreifen, wie sich ein Chor von zehn nackten Finishern in einem gekachelten
Keller-Duschraum anhört, wenn sie diese eine Melodie gemeinsam summen. Da die dada, da da diiiee dada
Die Party abends war klasse, aber leider viel zu früh zu Ende. Ok, das Aufstehen am Montag war schwer, weil
ich zehn Minuten gebraucht habe, um den Schlafsack von meinen Füßen, an denen das Blut über Nacht fest
getrocknet war, zu lösen. Aber ansonsten: keine Schmerzen, nirgendwo. Ich hatte erwartet, daß ich doch nicht
wirklich so unglaublich viel Kraft hatte, sondern nur berauscht war und gnadenlos die Reserven meines Körpers
geplündert hatte. Doch am Montag morgen ging es mir, von höchstens zehn cm² offenen Stellen abgesehen,
wirklich blendend. Ich hatte noch nicht mal Muskelkater. Unglaublich aber wahr. Die Heimfahrt war problemlos, der
Empfang zu hause großartig.
Nachlese: Am Dienstag morgen bin ich zum Arzt gegangen, damit er sich meine Füße anschauen kann. Ich
hatte Montag-morgens lediglich den selbstklebenden Verband aus der Pflichtausrüstung um die Füße gebunden
und rechnete mit dem Schlimmsten. Aber als der Doc die Verbände abnahm, oh Staunen, war über das Fleisch schon
die erste dünne Haut gewachsen! Der Arzt hat mir versichert, daß ich keine Verbände mehr bräuchte,
meine Füße würden bereits jetzt fünf Tage Heilung aufweisen. Ich hatte sonst keine Probleme, absolut
gar keine Probleme, Schmerzen oder sonst was. Und nicht mal Muskelkater.
Fazit: Der Lauf war schön bis zum Grand Col Ferret. Er war hart bis Trient. Der Rest war für mich ein
glattes Wunder.
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